Wer ein Auswandererschiff betrat, war staatenlos. Denn in diesem Moment wurde der bisherige Pass ungültig. Damit setzten die Menschen, die Deutschland verließen, alles auf eine Karte. So wie Justina Tubbe aus Oderberg. Aber auch wirtschaftlich wagten sie einiges: Denn oftmals verkauften sie ihren gesamten Besitz, um die Passage nach Amerika bezahlen zu können. Und dann konnten sie – jedenfalls nach 1892 – nicht einmal sicher sein, dass sie von Ellis Island aus einen Fuß auf das gelobte Land setzen konnten. Erlebniszentrum
Hautnah erleben und nachfühlen kann man dies im Auswandererhaus in Bremerhaven. Das Haus ist kein Museum im klassischen Sinne. Man könnte es eher als Erlebniszentrum bezeichnen – aber eines, das nicht unterhalten, sondern Geschichte fühlbar machen möchte. Es beginnt schon beim „einchecken“. Jeder Besucher erhält einen Boarding Pass – in ihm enthalten die sogenannte icard: „Mit der Plastikkarte kann man an etlichen Medienstationen Informationen abrufen“, informieren die Damen hinter dem Tresen. Man kann es auch bleiben lassen, denn die Eindrücke sind ohnedies vielfältig. Aber es entgeht einem etwas.
Sonderführung
Wir sind an einem Sonnabend zur Sonderführung angemeldet: „Von der Lutherbibel zur Gaunergeschichte“ lautet das Thema. Seit April 2014 werden Bücher für deutsche Einwanderer in Amerika gezeigt. Eine junge Frau empfängt uns. Suchend schauen wir uns nach den weiteren Mitgliedern der Führung um: Es gibt keine. Eine 25-köpfige Gruppe ist einfach nicht erschienen. So kommen wir Zwei in den Genuss einer ganz privaten Zeitreise, denn vor der Kabinettausstellung führt der Weg durch die übrigen Räume.
Die Wartehalle
Unsere „Reiseleiterin“ heißt Annika Heyen und ist ein bisschen aufgeregt. Aber sie macht ihre Sache sehr gut. Beim ersten Besuch des Museums vor einigen Jahren haben wir fast achtlos den Ausstellungsbereich betreten. Jetzt erfahren wir, dass an der Stelle des Auswandererhauses einst ein Lagerschuppen für Proviant stand. Die junge Frau macht uns eine große Fotografie aufmerksam: „Welcher Klasse gehörten die Auswanderer an, die Sie hier sehen?“ Einen Moment überlegen wir – dann ist klar: Der dritten Klasse. Der Grund: „Sie mussten ihr Gepäck selber tragen.“ Und dann erfahren wir, dass der Eingangsbereich einer Wartehalle für die dritte Klasse nachgebildet ist. Die Wände tragen Graffiti, denn „ so würde die Halle sicherlich heute von außen aussehen“, erklärt Annika Heyen. Einst stand sie dort, wo heute in Bremerhaven der Zoo am Meer liegt. 1869 war die Wartehalle gebaut worden – in der Hochzeit der Auswanderung. „Das letzte Auswandererschiff verließ Bremerhaven 1974“, erfahren wir und sind erstaunt. Das ist ja noch gar nicht so lange her.
An der Pier
Von der Wartehalle geht’s zur Pier. Hier mischen wir uns unter die Passagiere, die an Bord des Dampfschiffes „Lahn“ gehen wollen. Diese Szenerie gehört für mich zu den eindrucksvollsten: Es ist dunkel, das Wasser schwappt gegen die Kaimauern, Möwen schreien, die Menschen murmeln leise. Die Puppen in Gewändern aus derben Stoff sind lebensgroß – die Besucher verschwinden in der Gruppe, nur ab und zu lugt eine Baseballcap hervor. Und wenn man die eine oder andere Medienstation aktiviert, erfährt man von den Ängsten der Menschen. Schließlich war es eine Reise ins Ungewisse. Das Fotografieren ist gar nicht so einfach. „Nicht zu nah herangehen“, bittet Annika Heyen. Denn: Zu dicht oder mit (verbotenem) Blitz fotografiert verlieren die Figuren ihren Zauber.
Auswanderung mit 60 Jahren: Justina Tubbe
Auch Justina Tubbe wird voller Zweifel am Pier von Bremerhaven gestanden haben. 1855 reiste sie auf dem Großsegler „Tuisko“ gen Amerika. Ihr Lebenslauf ist eine von den sogenannten 18 A-Biografien des Hauses. Das heißt, die Geschichte dieser Menschen kann man nachvollziehen von Geburt bis zur Auswanderung und vielleicht darüber hinaus. In der „Galerie der 7 Millionen“ lagern in Schubladen die Auswandererbiografien, andere Laden tragen nur den Namen eines Auswanderers.
Mein Pass ist ausgestellt auf Justina Tubbe. Also zücke ich meine icard und lausche an der Medienstation: Justina wurde am 29. Mai 1792 in Bad Freienwalde im Königreich Preußen geboren. Mit 18 Jahren (im Jahre 1813) heiratet sie den Garnwebermeister Carl Ludwig Tubbe aus dem brandenburgischen Oderberg. Bis zum Jahr 1841 werden dem Paar acht Kinder geboren. Sie haben ihr Auskommen als Weber. Allerdings hat diese Berufsgruppe zu leiden, als die mechanischen Webstühle erfunden werden. Es geht ihnen schlechter. Und ganz miserabel werden die Lebensverhältnisse, als Carl Ludwig 1845 stirbt. Nun ist Justina mit den Kindern auf sich allein gestellt. Aber ein Unglück kommt selten allein. 1846/47 wird die Ernte vernichtet. 1853 Justina muss ihr Haus verkaufen und darin zur Miete wohnen. Ein Jahr später werden die Deichgebühren von der Gemeinde erhöht, denn kurz zuvor hat eine Flut die Ländereien verwüstet. Als dann noch Justinas Scheune nieder brennt, ist sie am Ende.
Einige Jahre zuvor sind bereits zwei ihrer Söhne nach Amerika ausgewandert. „Liebe Mutter, komm zu uns nach Texas“, schreiben sie ihr. Justina ist inzwischen 60 Jahre alt. Aber sie beantragt Auswandererpapiere für sich und zwei ihrer Söhne. Im September 1855 hält sie die Papiere in Händen.
Die Überfahrt: Kaum Platz, kaum Licht
„Muss i denn, muss i denn zum Städele hinaus…“ intonierte eine Kapelle, wenn die Schiffe in Bremerhaven ablegten. Justina Tubbe wird keine Vorstellung davon gehabt haben, was sie erwartete. Es waren die Lagerräume der Segelschiffe, in denen die Passagiere der dritten Klasse hausten. Auf der Route Amerika-Europa wurden hier Waren befördert, damit es keine teuren Leerfahrten gab. „Die Decken waren niedrig, aufrecht stehen konnte man nicht“, erklärt Reiseleiterin Annika Heyen. Verwundert schauen wir sie an, denn selbst Wolf mit seinen 1.82 Metern kann sich ausstrecken. Des Rätsels Lösung: In den nachgebauten Schiffsunterkünfte sind die Decken erhöht worden, damit sich die Besucher nicht den Kopf stoßen. In den einfachen Kojen mussten bis zu sechs Erwachsene plus Kinder liegen, ein simpler Holzeimer diente für das große und kleine Geschäft. „Es muss bestialisch gestunken haben“, schildert Annika Heyen die Verhältnisse. Kein Wunder, dass etliche Passagiere das gelobte Land nicht lebend erreichten.
Ein Zimmer und ein paar Jahrzehnte weiter sind die Verhältnisse auf dem Dampfschiff „Lahn“ dann schon fast paradiesisch zu nennen: Ein enge, aber alleinige Koje für jeden Passagier, ein Essraum. Auch Klosett und Waschbecken – „die kannten viele damals noch nicht einmal von zu Hause, dort hatten sie nur ein Plumpsklo“, erläutert unsere Reiseleiterin den „Luxus“. Wieder ein paar Schritte weiter sind dann die Reisebedingungen fast modern. Die Nachbauten der Schiffsunterkünfte – anschaulich mit einigen Figuren ausgestattet – vermitteln ein lebensechtes Bild von damals. Und es lohnt sich, auf der Toilette Platz zu nehmen: Dann kann man nämlich einen Film sehen…
Bis 1892 war die Einwanderung nach Amerika einfach. Doch dann wurden Vorschriften erlassen: Nicht mehr jedermann war erwünscht. Lesen und schreiben sollten die Einwanderer können, am besten noch 25 Dollar dabei haben. Und Polygamisten oder Verbrecher waren unerwünscht. Darum mussten nun alle Emigranten erst einmal Ellis Island passieren. Der Warteraum mit den Gitterboxen wurde im Auswandererhaus wie so vieles täuschend echt nachgebaut. Bedrückend ist die Atmosphäre und dann sind die Fragen zu beantworten. Lange zögern darf man nicht, fünf Sekunden Zeit hatten die Einwanderer für jede Antwort. Ich versuche es. Uff – geschafft. Aber ich bin ja auch gebildet, entspannt und habe eine weiße Weste…
In der neuen Heimat
Von Ellis Island ging und geht es zur Grand Central Station – New Yorks gewaltigem Bahnhof. In Bremerhaven sind es nur wenige Schritte, im „Big Apple“ schon ein paar Kilometer. Für Menschen aus kleinen Dörfern und ohne Englisch-Kenntnisse ein echtes Abenteuer. Justina Tubbe musste diesen Weg noch nicht gehen. Aber wie die Frau, die in der großen Marmor-Halle steht, wird auch sie noch nie in ihrem Leben einen schwarzen Menschen gesehen haben!
Auch wir staunen, als wir die Grand Central Station betreten. Sie sieht wirklich echt aus. Und wir wundern uns. Haben wir die Halle bei unserem ersten Besuch übersehen? Wir können uns gar nicht erinnern. Annika Heyen kann uns beruhigen. 2012 wurde das Museum erweitert: Nach der Aus- folgt jetzt auch die Einwanderung. Aber das ist wieder eine Geschichte für sich…
Justina Tubbe in den USA
Wie mag es Justina Tubbe in der Neuen Welt ergangen sein? Über ihren jüngsten Sohn August und ihre Tochter Charlotte zeugte sie viel Nachkommen – dazu gehört John Tubbe, der in Nacogdoches /Texas lebt. Eine Nachfahrin, Gisela Laudi, hat über Justinas Lebensgeschichte ein Buch geschrieben. Gelesen habe ich es (noch) nicht, aber ihre Web-Site verrät noch viele Details über diese deutsche Auswanderin.
Info:
www.dah-bremerhaven.de
www.giselalaudi.de
http://justina-tubbe.jimdo.com
Extra
Übrigens: „Falls Sie selbst über eine schöne und interessante Ein- oder Auswanderungsgeschichte in Ihrer Familie verfügen: Gern nehmen wir sie in unser Museum auf“, schreibt das Auswandererhaus. Das ist eine weitere Besonderheit: Die Exponate sind Menschen zuzuordnen sind.
Übrigens: Zwischen 1830 und 1974 wanderten mehr als sieben Millionen Menschen über Bremerhaven in die Neue Welt aus – nach Nordamerika, Argentinien, Australien und Brasilien.
Übrigens: Für die originalgetreu rekonstruierten Räume und das multimediale Ausstellungskonzept wurde das Haus im Jahre 2007 als bestes Museum Europas ausgezeichnet.
Übrigens: Ottmar Mergenthaler (geboren am 11. Mai 1854) wanderte 1872 in die USA aus. Der begnadete Mechaniker und Tüftler erfand eine mechanische Setzmaschine und revolutionierte damit den Buchdruck vierhundert Jahre nach der Erfindung des Schriftsatzes durch Gutenberg. „Linotype“ wurden seine Setzmaschinen genannt – nach „A line of types“ – einer kompletten Zeile von Buchstaben.
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